Pierrette Herzberger-Fofana (MdEP):
Wie die Welt(wirtschaft) Hunger zulässt
Mein Kommentar zu den Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die afrikanischen Länder
Beim Gipfeltreffen der Paritätischen Parlamentarischen Versammlung AKP-EU, also einem Treffen der Vertreter*innen der Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifischen Raums mit Vertreter*innen der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Anfang April dieses Jahres in Straßburg war eines der diskutierten Hauptthemen die Ernährungssicherheit. Die russische Invasion in die Ukraine und die dadurch massiv gestiegenen Getreide- bzw. Lebensmittelpreise gefährden die sowieso schon nicht gegebene Ernährungssicherheit in vielen Staaten der Welt auf drastische Weise.
Ukraine und Russland gehören zu den weltweit wichtigsten Getreide-Exporteuren. Dass sich im Rahmen des Ukraine-Krieges weltweit Getreide- und Energiepreise erhöhen, bedeutet für weite Teile Afrikas, besonders für die bereits krisengebeutelten unterm Strich vor allem eines: Hunger. Not. Weite Teile der Südhalbkugel unserer Erde steuern auf eklatante Hungerkrisen zu. Nach Angaben des World Food Programmes (WFP) gehen schon aktuell rund 811 Millionen Menschen weltweit unfreiwillig hungrig zu Bett.
Garniert werden dies tragischen Umstände mit einem perfiden Gesichtspunkt: Noch(!) drohen bevorstehende neue Wellen der Hungersnot und dementsprechend auch wirtschaftliche Einbrüche in den von Hunger betroffenen Regionen nicht, das Weltbild der nördlichen Hemisphäre allzu sehr zu beeindrucken. Insbesondere hungernde Menschen in afrikanischen Staaten sind kongruent mit den Vorstellungen, die sich privilegierte Gesellschaften von ihrer Situiertheit und der Situiertheit „der Anderen“ machen. Diese Kongruenz stellt sich deshalb ein, weil Hierarchien und Deutungshoheiten in den Beziehungen zwischen Europa und Afrika festgeschrieben scheinen. Aus der Kolonialgeschichte hervorgegangene rassistische Strukturen innerhalb der Weltgemeinschaft waren und sind dafür ein Nährboden.
Die wirtschaftlichen Konsequenzen des Ukraine-Krieges für Afrika sind sicherlich vielfältig. Länder mit hohen Gas- und Ölvorkommen, beispielsweise Senegal, könnten Vorteile verzeichnen, wenn es in naher Zukunft um neue Lieferquellen nicht zuletzt für Europas Energiebedarf gehen wird. Wo Knappheit herrscht, besonders im Nahrungssektor, wird es nach Möglichkeit zu Investitionen und Innovationen, beispielsweise im Agrarbereich kommen.
Schon seit Längerem besteht die Problematik, dass billige Exporte europäischer Agrarüberschüsse afrikanische Ackerbauern und Bäuerinnen davon abhalten den eigenen Brotmarkt zu versorgen und beispielsweise mit Hirse und Sorghum, Getreide für trockene Regionen, wertvolle Alternativen zum Weizen zu stellen. Die momentanen Entwicklungen könnten also dem Anbau und der Vermarktung eigener Produkte – im Rahmen höherer Kosten für den Endkonsumenten – im eigenen Land Vorschub leisten. Dennoch ist zu befürchten, dass den positiven und selbstwirksamen wirtschaftlichen Entwicklungen in vielen afrikanischen Ländern, angeschoben durch klimatisch bedingte starke Dürren, der Hunger zuvorkommt.
Wenn ich Hunger habe, werde ich unruhig und unproduktiv. Meine Leistungsfähigkeit sinkt. Wenn ich Hunger habe, habe ich diesen jedoch nicht auf existenzielle Weise. Die Gewohnheit meines Organismus‘ regelmäßig genährt zu werden macht sich bemerkbar. Ein Mensch, eine Gesellschaft, ein Staat, der Hunger leidet: wird unruhig, wird unproduktiv, weist mangelnde Leistungsfähigkeit auf. Existenzieller Hunger bedeutet existenzielle Entkräftung bedeutet, nicht oder kaum in der Lage zu sein für wirtschaftliches Wachstum oder gar Wohlstand zu sorgen. Hunger ist seiner Form nach das Gegenteil von Selbstermächtigung. Er hat viel mehr eine bezeichnende Macht über die Gesundheit, die Produktivität und das Wohlergehen eines Menschen, einer Gesellschaft, eines Staates. Hilfsorganisationen bereiten sich derzeit auf durch Hunger ausgelöste humanitäre Katastrophen vor.
So gesehen, und um den Faden meiner einleitenden Worte aufzugreifen, ist es bezeichnend, dass die Besetzung bei genanntem Gipfeltreffen der AKP- und EU-Länder, so war wie sie war. Von 27 der Vertreter*innen der EU-Staaten waren fünf anwesend, oder anders gesagt: vier Fünftel glänzten durch ihre Abwesenheit. Dies, obwohl das Europäische Parlament Gastgeber des Treffens war und dies, obwohl es zeitlich gesehen nahtlos der Plenartagung des Parlaments vorgeschaltet war. Ich möchte den Bogen nicht überspannen, aber ich möchte ihn zumindest gespannt halten und mit ihm auf die Frage der wirtschaftlichen Konsequenzen des Ukraine-Krieges für Afrika zielen.
Die Indifferenz, die beim angesprochenen Gipfeltreffen im kleinen Format seitens europäischer Vertreter*innen an den Tag gelegt wurde, lässt sich durchaus übertragen auf das ganz große Format weltpolitischer Zusammenspiele. Sie zeigte sich im Umkehrschluss auch im Abstimmungsverhalten bei der UNO-Resolution vom 2. März 2022, die den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilt. Die meisten der 35 Enthaltungen kamen von afrikanischen Staaten, deren Abhängigkeit vom russischen Weizenexport groß ist. Eine Hinwendung Afrikas nach Russland und China ist eine Konsequenz wirtschaftlicher Verhältnisse auf afrikanischem Boden, die Europa bzw. die Europäische Union samt ihrer Ziele und Werte nicht außer Acht lassen darf, besonders im Hinblick auf menschenrechtliche und klimagerechte Fragestellungen.
Wenn es so ist, und davon gehe ich aus, dass die Europäische Union unter anderem ihren Beitrag leisten möchte zu einer nachhaltigen Entwicklung der Erde, zu Solidarität und einer gegenseitigen Achtung der Völker, zur Beseitigung der Armut, zum Schutz der Menschenrechte und zur strikten Einhaltung des Völkerrechts, dann muss die politische und wirtschaftliche Abwendung Afrikas von der EU, die sich in der Resolution auf erschreckende Weise gezeigt hat, als Alarmsignal gewertet werden. Der diesjährige EU-Afrika-Gipfel in Brüssel hatte bereits die Kluft sichtbar gemacht, die zwischen einer oft proklamierten Rhetorik der Augenhöhe und einer politischen Praxis auf Augenhöhe besteht. Die bevormundende Haltung Europas, von der sich Afrika befreit wissen will, hat Europa noch nicht abgelegt.
Wir wissen, dass die europäische Kolonialgeschichte die Beziehungen zwischen Afrika und Europa auf eklatante Weise geprägt hat. Die pseudowissenschaftliche Konstruktion von „Rasse“ im 17. und 18. Jahrhundert, wohl gemerkt zu Zeiten der „Aufklärung“, prägt die Menschheit bis heute. Die mit dem Rassenbegriff einhergehende Erhöhung der einen und Abwertung der anderen Menschen hat die koloniale Ausbeutung überhaupt erst möglich gemacht. Sie hat dafür gesorgt, dass diejenigen, die anderen Leid angetan haben, ihr Selbstbild (der Überlegenheit) aufrechterhalten konnten, während kolonisierte Menschen und Völker ein Selbstbild der Unterlegenheit zugewiesen bekamen. Dieses hierarchische Konstrukt und dessen Aspekte der Bevormundung und vermeintlichen Abhängigkeit muss auch im 21. Jahrhundert noch nach Kräften dekonstruiert werden.
Solange akzeptiert wird, dass ein Teil der Menschheit mangelernährt, unterprivilegiert und abgeschnitten von fortschrittlichen Entwicklungen sein darf, solange es hier in Europa keinen Aufschrei erzeugt, dass 44 Millionen Menschen weltweit am Rande einer Hungersnot stehen, dass 150 Millionen Kinder weltweit chronisch unterernährt oder ausgezehrt sind, solange muss über Rassismus als grundlegendes Problem weltweiter Ungerechtigkeit nachgedacht und muss gehandelt werden.
Rassismus und dessen koloniale Vorgeschichte ist die Bedingung für die Akzeptanz (wirtschaftlicher) Not der einen und die Bedingung für die Akzeptanz wirtschaftlichen Erfolges der anderen. Rassismus ist also, neben Sexismus und diversen anderen Formen der Diskriminierung Grundbedingung unseres wirtschaftlichen Handelns und dem Lebensstandard, den wir auf europäischem Boden weitestgehend genießen dürfen – und den Afrika nach Kräften zu erreichen sucht. In unserem europäischen Vorgehen gegenüber Russland und im Rahmen des Ukraine-Krieges sollte die Komplexität dieser Gesichtspunkte ausreichend mitgedacht werden.